Weißt du wie viel Sternlein stehen...

Nachdenklich schaue ich in den Sternenhimmel. Dort oben, ja da vermute ich sie. Unsere beiden Sterne. Wie jeden Abend, schließe ich kurz meine Augen und denke liebevoll an die wenigen Augenblicke die wir mit ihnen hatten, zurück.

 „Mama! Kommst du?“, höre ich Alex rufen. Seine Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und lässt mich in die Realität zurück kommen. Ich gehe in sein Zimmer und nehme ihn liebevoll in den Arm. Wie dankbar ich bin, dass er uns geschenkt wurde. Dass er in meinem Bauch bis zur Entbindung wachsen durfte. Ich rieche an seinen Haaren, sauge den Duft förmlich in mich auf. Es ist bedingungslose Liebe, die ich für ihn empfinde.

„Wollen wir singen?“, fragt er mich und schaut mich mit seinen dunklen Knopfaugen an.

Ich nicke ihm zu und wir beginnen gemeinsam das Lied – Weißt du wie viel Sternlein stehen- zu singen. Danach kuschelt sich Alex unter die Decke und schmeißt zwei Kusshände in den Himmel. „Gute Nacht Lisa, gute Nacht Felix!“. Er zieht mich mit beiden Händen an sein Gesicht und gibt mir einen Gute Nacht Kuss.

„Schlaf gut mein Schatz“, flüstere ich in sein Ohr.

„Hab dich lieb Mami“, flüstert er zurück.

„Ich dich mehr.“

Nein, das gibt es nicht!“

Doch bis zum Mond so lieb.“

„Und ich dich bis zum Mond und den Sternen so lieb!“

Schmunzelnd gehe ich aus dem Zimmer und lehne mich an die Zimmertür.

 Nicht immer bin ich so glücklich aus diesem Kinderzimmer hinaus gegangen.

Es gab Tage, da habe ich geweint, geschrien, geschimpft, geklagt.

Und es gab Tage, da lag ich einfach nur da.

Auf dem Boden. Ohne Perspektive, ohne Lebensfreude, einfach nur da.

 Bevor Alex gesund auf die Welt kam, hatte ich zwei Schwangerschaften die leider nicht so verliefen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Lisa entschied sich in der 20sten SS-Woche zu gehen. Es war bei einer Routinekontrolle, als die Ärztin sah, dass sie keinen Herzschlag mehr hatte. Diese Diagnose war niederschmetternd. Einige Tage zuvor hatte ich sie immer und immer wieder in meinem Bauch gespürt. Mehr als sonst. Eine Autopsie ergab, dass sie die Nabelschnur um den Hals gewickelt hatte und erstickt war. Es war ein Schock für mich! Genau bei dieser Untersuchung konnte mich mein Mann aus beruflichen Gründen nicht begleiten. Ich habe keine Ahnung, wie ich damals nach Hause gekommen bin. Irgendwann saß ich heulend im Wohnzimmer und hielt meinen Bauch. Ich konnte nicht begreifen, was passiert war. Als mein Mann nach Hause kam, sah er mich, sah auf meine Bauch und nahm mich in den Arm. Ich konnte nur den Kopf schütteln, fand keine Worte...wir hielten einander fest und weinten zusammen die halbe Nacht. An Schlaf war nicht zu denken. Ich grübelte, was ich falsch gemacht hatte. Ob ich etwas übersehen hatte. War ich schuld am Tod unserer Tochter? Hatte ich mich beim Turnen zu sehr gestreckt oder war der Wäschekorb zu schwer gewesen? Fragen über Fragen quälten mich. Am nächsten Morgen mussten wir zur Geburt ins Krankenhaus. Die Krankenschwestern und Ärzte waren alle sehr fürsorglich und begleiteten uns in dieser schwierigen Situation. Sie leiteten die stille Geburt ein, abseits von Müttern mit frischgeborenen Babys oder einem Kreissaal. Als die Wehen schließlich einsetzten und ich nach mehreren Stunden unsere Lisa tot gebar, stand die Welt still. Ich kann es nicht wirklich beschreiben, aber der ganze Raum war erfüllt von Energie und Liebe. Es war unser Moment. Unser kurzer Moment mit unserer Tochter, den wir nie vergessen werden. Sie war einfach nur perfekt und wunderschön. Wir bekamen die Zeit, uns von Lisa zu verabschieden. Fotos von ihr zu machen. Ohne sie nach Hause zu gehen, und allen Freunden und Verwandten von dieser Nachricht zu erzählen, kostete sehr viel Kraft und noch mehr Tränen. Die Reaktionen darauf waren unterschiedlich. Es gab stumme Umarmungen, die einfach nur gut taten. Es gab Kommentare wie „ Ihr seid ja noch jung, probiert es einfach nochmal“, oder „ So schlimm kann es ja nicht sein, ihr habt euer Baby ja noch gar nicht gekannt!“.

Es gab Leute, vor allem Frauen, welche offen darüber sprachen und sich offenbarten indem sie sagten, dass sie selber auch eine Fehl-oder Totgeburt gehabt hatten. An die Beerdigung im engsten Familienkreis erinnere ich mich kaum. Ich sah alles nur verschleiert, denn meine Augen waren immer wieder voller Tränen. Ich erinnere mich noch an die Worte des Pfarrers welcher sagte, dass sie nun frei wie ein bunter Schmetterling in den Himmel fliegt. Wochen über Wochen war ich traurig, eigentlich, um es richtig auszudrücken, depressiv. Nichts konnte mich aufheitern, ich war ein Stück weit mit Lisa gestorben. Irgendwie fühlte ich mich in meiner Trauer alleine gelassen. Ich begann Tagebuch zu schreiben, die Schwangerschaft Revue passieren zu lassen, klebte Ultraschallbilder und alles was mich an Lisa erinnerte in das Buch. Mit der Zeit merkte ich, dass die Einträge nicht mehr täglich sondern nur mehr zwei bis dreimal in der Woche die Seiten füllten. Bis es schließlich nur mehr einen Eintrag pro Woche gab. Ich begann mich zu öffnen und mit einigen Mitmenschen meine Erfahrungen der Totgeburt und meine Trauer zu teilen. Dabei merkte ich, wie gut mir das tat. Vor allem aber merkte ich, dass Lisa zu uns gehörte, dass sie ein Teil unserer Familie war.

 Ein Jahr später war ich erneut schwanger. Wir freuten uns sehr, in der Hoffnung, dass dieses Mal alles gut verlaufen würde. Ich versuchte die Angst zu verdrängen, schaute gut auf mich und meinen Körper, nahm alle Vorsorgeuntersuchungen war. Es schien, als ob alles in Ordnung wäre. In der 24sten SS-Woche kam aber wieder alles anders. Bei einer Kontrolle stellten die Ärzte fest, dass meine Plazenta nicht richtig durchblutet war, der Fötus viel zu klein und der Herzschlag schon sehr schwach war. Erneut brach eine Welt für uns zusammen. Sollten wir nun auch noch unseren kleinen Jungen verlieren? Einige Tage später, hatten wir Gewissheit. Trotz aller Bemühungen der Ärzte, hatte Felix es nicht geschafft. Auch er war still und leise im Mutterleib verstorben. Wie versteinert saßen wir da... wie sollten wir diesen Schmerz noch ein weiteres Mal ertragen? Irgendwie schafften wir es. Unsere Liebe und der Glaube haben uns durch diese schwere Zeit getragen. Wir haben unser Schicksal angenommen und es zusammen überstanden. Familie und Freunde waren uns eine große Stütze. Sie verstanden unseren Schmerz, sie trösteten, sie weinten mit uns. Das tat gut! Sie alle haben die Trauer mit uns getragen, gaben uns das Gefühl, dass sie für uns da sind. Welch ein Segen, dass sie den Verlust von Felix, nein besser gesagt unserer Kinder nun noch intensiver, noch mehr wahr nahmen. Das Grab unserer beiden Kinder wurde zu unserem Zufluchtsort, die gerahmten Fotos daheim mit der immer brennenden Kerze davor unser Trostplatz.

 „Mami, ich kann nicht einschlafen! Kuschel dich zu mir, bitteeeeee“, höre ich Alex rufen.

Leise öffne ich die Tür, gehe ans Bett und kuschle mich an ihn. Er schmiegt sich in meine Arme, hält mich fest. Leise summe ich das Lied – Weißt du wie viel Sternlein stehen-.

Nach wenigen Minuten ist er eingeschlafen. Sein Atem geht langsam und ruhig. Bewusst bleibe ich liegen, genieße diesen Moment und wache erst auf, als mein Mann mir zärtlich über die Wange streichelt.

 Verschlafen blinzle ich ihn an und lächle. Er legt den Zeigefinger auf seinen Mund und ich nicke. Leise stehe ich auf. Wir nehmen uns in den Arm und betrachten unseren schlafenden Jungen. Wie dankbar wir sind, ihn zu haben, können wir nicht in Worte fassen. Dass wir es nach den zwei Totgeburten nochmal riskiert haben, erforderte viel Mut. Dass er heute bei uns sein darf, ist für uns ein kleines Wunder, ein Segen, ein Geschenk.

Und wenn wir gefragt werden, wie viele Kinder wir haben, so antworten wir immer mit „DREI“. Denn wo auch immer Lisa und Felix sind und aus welchem Grund sie sich auch entschieden haben, nicht bei uns zu bleiben, sie bleiben für immer unsere besonderen Sterne am Himmelszelt.

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Ti amo fino alla luna e ritorno!